„Was uns auffiel in diesen Corona Zeiten“ Stellungnahme und Forderungskatalog der LAK-MV an die Landespolitik

Herbstkonferenz 14.09.2020 Die Corona Pandemie ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern sind bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen, nicht zuletzt auch durch gutes Agieren der Bundes- und Landesregierung. Gleichwohl bleibt festzustellen, dass die Interessen von „Menschen im Schatten“ nach Ansicht der LAK MV nicht genügend beachtet wurden. Daher wendet sich die LAK-MV mit den folgenden Statements und Forderungen an die Landesregierung sowie den Landtag:

Sicherung des Lebensunterhalts
Die weltweite Pandemie führte u.a. durch gestiegene Transportkosten bei Lebensmitteln zu deutlichen Preiserhöhungen z.B. bei Obst und Gemüse. Gerade diese Nahrungsmittel sind für eine gesunde, ausgewogene Ernährung aber wichtig. Mussten arme Menschen schon vor der Corona Krise oftmals aus finanziellen Gründen auf den Kauf von Frischobst verzichten1, so ist dies für viele arme Menschen nahezu unerschwinglich geworden. Die Zusammenhänge zwischen Mangelernährung und Gesundheit sind hinlänglich bekannt.
Es ist zu beobachten, dass arme Menschen zunehmend auf das (in der Hochphase der Pandemie zudem ausgesetzte oder stark eingeschränkte) Angebot der Tafeln verwiesen wurden. Dies ist nicht hinnehmbar! Tafeln sind ein zusätzliches, fakultatives Angebot zur Überbrückung von individuellen Engpässen, aber kein Instrument der Regelversorgung und somit dürfen sie nie systemrelevant sein! Der Forderung nach 100 EUR Soforthilfe der bundesweiten Initiative „Rechte statt Reste“ war bisher kein Erfolg beschieden.
Die LAK-MV fordert daher weiterhin einen zunächst befristeten Corona-Zuschlag i.H.v. 100€/Monat für Grundsicherungsbezieher. Damit können die gestiegenen Kosten für Ernährung und andere Mittel des täglichen Bedarfs zumindest ansatzweise kompensiert werden. Von der beschlossenen Mehrwertsteuersenkung profitieren arme Menschen bei Einkäufen des täglichen Bedarfs nicht wirklich. Vielmehr sind Konsumenten von hochwertigen Konsumgütern die wahren Profiteure, somit ist diese Regelung sozial unausgewogen.

Sicherung des Wohnraums
Die Bundesregierung hat sinnvollerweise die Kündigung von gemietetem Wohnraum infolge von Mietschulden während der Pandemie zeitlich befristet ausgesetzt. Allerdings fallen neben der Miete auch noch individuell zu tragende Kosten für Energie (Gas, Elektrizität) und Wasser an. Hier kann Zahlungsverzug zur Versorgungseinstellung führen. Dies blieb bisher unberücksichtigt.
Die LAK-MV fordert bei einem Wiederaufleben dieser Mietschulden-Regelung, z.B. infolge einer zweiten Epidemiewelle, dass sich die Landeregierung in Berlin für eine entsprechende Regelung bei den Energiekosten einsetzt und umgehend darauf hinwirkt, dass die Energieversorger im Land eine Kulanz bei Corona-bedingten Zahlungsstörungen walten lassen. Zudem sind die zuständigen Sozialleistungsträger aufzufordern, die Regelungen der §§ 22 bzw. 24 SGB II, 36 SGB XII im Gefolge der Corona-Pandemie großzügig, sowohl für Miet- wie auch Energieschulden, anzuwenden.

Sicherung von Teilhabe an Bildung
Im Ergebnis der Schulschließungen mussten „über Nacht“ digitale Lernmöglichkeiten durch die Schulen eingerichtet werden. Hiervon konnten Kinder problemloser profitieren, die in Haushalten leben, welche über eine Ausstattung mit digitalen Endgeräten verfügen. Für Kinder armer Eltern trifft dies oftmals nicht zu. Hierdurch besteht die sehr große Gefahr, dass diese Kinder von notwendiger Bildung „abgehängt“ werden. Diese bildungsmäßige Exklusion ist für die Kinder nicht hinnehmbar und gesellschaftlich fatal!
Die LAK MV fordert die Landesregierung auf, die Flächendeckung sowie die Wirksamkeit der digitalen Leihgeräte an den Schulen Mecklenburg-Vorpommerns zu prüfen und im Bedarfsfall im Sinne der Lernmittelfreiheit gemäß § 54 Schulgesetz MV nachzusteuern. Außerdem muss die Berechnungsgrundlage für die Festlegung der Regelsätze modernisiert werden: Erstmalig sollen zwar Mobiltelefone und Handykosten mit in die Berechnung einfließen2, aber Kostenansätze für digitale Teilhabe, wie sie in der Krise schulseitig erwartet wurde, sind in keinster Weise enthalten. Dies ist nicht mehr zeitgemäß und leistet einer weiteren Bildungsexklusion Vorschub! Daher fordert die LAK-MV die Landesregierung auf, im Rahmen einer Bundesratsinitiative, am besten im Zusammenwirken mit anderen Bundesländern, sich für eine Modernisierung der Berechnungsgrundlage der Regelsätze einzusetzen, welche die Berücksichtigung zeitgemäßer digitaler Standards beinhaltet. Schon jetzt sind schwer aufholbare Bildungsdefizite insbesondere bei armen oder Kindern aus bildungsfernen Haushalten feststellbar. Um nicht einen „verlorenen Jahrgang“ am Ende der Krise vorzufinden, sind zusätzliche, intensive Nachschulungs- und Nachhilfemaßnahmen dringend nötig. Dies ist nicht mit den derzeitigen gesetzlich normierten BuT-Möglichkeiten zu realisieren. Die LAK-MV fordert daher, mit Landesmitteln kompensatorisch die BuT-Mittel für Nachhilfe aufzustocken und für unterstützungsbedürftige Kinder entsprechende zusätzliche Maßnahmen zu ermöglichen.

Sicherung von leistungsgerechter Entlohnung
Die Corona Ausnahmesituation führte durch extreme Doppelbelastungen infolge von Home-Office, Home-Schooling und Kinderbetreuung infolge geschlossener Kitas/Horte in vielen Fällen zu häuslichen Stresssituationen. Diese Belastung wurde zum überwiegenden Teil von Frauen getragen. Sie werden immer noch schlechter bezahlt, der Gender pay gap ist nicht überwunden. Auch in sog. „systemrelevanten Berufen“, z.B. Altenpflege, Küchenpersonal, Reinigungskräfte, sind überproportional Frauen beschäftigt. Klatschen auf dem Balkon für sie reicht nicht. Daher sind die Anstrengungen für eine angemessene Bezahlung zu intensivieren, auch um einer künftigen Altersarmut vorzubeugen.
Sicherung von Frauenhäusern
Die Krise offenbarte eine deutliche Zunahme von häuslicher Gewalt, deren Opfer fast ausnahmslos Frauen und Kinder sind. Die Frauenhäuser erreichten rasch ihre Kapazitätsgrenzen. Auch wenn es jetzt Sonderzuwendungen für Frauenhäuser gab, darf nicht übersehen werden, dass i.d.R. von einer auskömmlichen Finanzierung dieser notwendigen Fluchtstätten nicht gesprochen werden kann. Daher fordert die LAK-MV eine auskömmliche Dauerfinanzierung für Frauenhäuser aus Landesmitteln. Außerdem ist in jedem Frauenhaus eine niedrigschwellige Kinderbetreuung vorzusehen und sicherzustellen. Nur mit dieser Entlastung können betroffene Frauen wirklich eine Neuorientierung ihrer Lebenssituation erreichen.

Sicherung von Präventivmaßnahmen
In der Corona-Krisenzeit wurde mehr Alkohol konsumiert als in Nicht-Krisenzeiten. Es gibt auch Hinweise auf eine erhöhte Zahl von (ungewollten?) Schwangerschaften. Dies kann zu einer erhöhten Geburtsrate von Kindern mit einer FASD-Diagnose (Fetale Alkoholspektrumstörungen) führen. Kinder mit diesen Schädigungen bedürfen einer personalintensiven Begleitung, um später im Leben zurecht zu kommen. Es werden häufig keine entsprechenden Diagnosen gestellt und Symptome, selbst in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, „übersehen“. Eine präzise Diagnose ist aber die Voraussetzung für die angemessene sowie not- und aufwendige Betreuung (näheres zu FASD: Drogenbeauftragte der Bundesregierung 20173).
Es darf unterstellt werden, dass eher Schwangere aus bildungsferneren Milieus aufgrund eines ungenügenden Wissens betroffen sind. Daher wären spezielle Präventivmaßnahmen angezeigt, z.B. in gynäkologischen Praxen (wo längst nicht immer prophylaktisch aufgeklärt wird).
Daher fordert die LAK-MV im Interesse von ungeborenen Kindern, dass sich die Landesregierung bei der BZgA intensiv einsetzt für die Entwicklung entsprechender Präventivprogramme und zugleich auf Landesebene durch geeignete Maßnahmen für eine Sensibilisierung und Bereitschaft bei allen Beteiligten (Krankenhäuser, Ärzte, Hebammen, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen) hinsichtlich FASD-Diagnosen sorgt, damit betroffene Kinder die notwendige Betreuung erhalten können.

Sicherung von medizinischer Versorgung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Grundsätzlich gilt für uns, dass arme Menschen häufiger chronisch krank/behindert sind und umgekehrt Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen häufiger zur armen Bevölkerung zählen. Für viele von ihnen konnte im Lock-down die medizinische Versorgung nicht sichergestellt werden. Das muss sich ändern.
Zugleich waren und sind sie vermehrt von Teilhabe ausgeschlossen, werden angefeindet und ausgegrenzt (weil sie erkrankungsbedingt keine Masken tragen können).
Einrichtungen der Pflege wurden zum Teil zum rechtsfreien Raum, in dem die Bewohner/innen wie Gefangene behandelt wurden.
Unsere Forderung ist daher, bei den Einschränkungen die Auswirkungen von Maßnahmen auf Menschen mit Behinderung bzw. chronischer Erkrankung in jedem Alter und jeder Lebenssituation mitzudenken (bzw. sich den Sachverstand ihrer gewählten Interessenvertretungen einzuholen).
Sicherung von sozialen Kontakten für Bewohner von Einrichtungen Noch immer gibt es Einrichtungen, die den Besuchskontakt mit Angehörigen erheblich erschweren und mit unnötigen bürokratischen Hürden arbeiten. Angehörige schildern gravierende Auswirkungen der Corona-bedingten Besuchseinschränkungen in Pflegeheimen, wie Verlust von Fähigkeiten durch ausbleibende Therapie- und Betreuungsangebote, Depressionen, Selbstmordgedanken und Suizide durch unerträgliche Besuchssituationen aufgrund der sozialen Vereinsamung. Inzwischen rechnen manche Experten mit einer zweiten Infektionswelle und erneut wird über verschärfte Besuchsregelungen und Kontaktverbote in Einrichtungen nachgedacht. Deshalb sind alle Akteure in Politik, Verwaltung und bei den Heimbetreibern aufgefordert, rechtzeitig zum Schutz der Heimbewohner und zur Vermeidung der Vereinsamung sachgerechte Konzepte zu erarbeiten. Als erster Schritt sollte in allen Einrichtungen über WLAN der uneingeschränkte Kontakt zur Außenwelt möglich sein.

Die Forderungen der LAK MV zusammengefasst:

  1. Die LAK MV fordert weiterhin einen zunächst befristeten Corona-Zuschlag i.H.v. 100€/Monat für Grundsicherungsbezieher.
  2. Die LAK MV fordert, bei einem Wiederaufleben der Mietschulden-Regelung, z.B. infolge einer zweiten Epidemiewelle, dass pandemiebedingt keine Zwangsräumungen erfolgen dürfen, dass sich die Landeregierung in Berlin für eine vergleichbare Regelung bei den Energiekosten einsetzt und umgehend darauf hinwirkt, dass die Energieversorger bei Corona-bedingten Zahlungsstörungen Kulanz walten lassen. Zudem sind die zuständigen Sozialleistungsträger aufzufordern, die Regelungen der §§ 22 bzw. 24 SGB II, 36 SGB XII im Gefolge der Corona Pandemie großzügig, sowohl für Miet- wie auch Energieschulden, anzuwenden.
  3. Die LAK MV fordert die Landesregierung auf, die Flächendeckung sowie die Wirksamkeit der digitalen Leihgeräte an den Schulen Mecklenburg-Vorpommerns zu prüfen und im Bedarfsfall im Sinne der Lernmittelfreiheit gemäß § 54 Schulgesetz MV nachzusteuern.
  4. Die LAK MV fordert die Landesregierung auf sich im Rahmen einer Bundesratsinitiative für eine Modernisierung der Berechnungsgrundlage für die Regelsätze einzusetzen, welche unter anderem die Berücksichtigung zeitgemäßer digitaler Standards beinhaltet.
  5. Die LAK MV fordert die Landesregierung auf, mit Landesmitteln kompensatorisch die BuT-Mittel für Nachhilfe aufzustocken und für unterstützungsbedürftige Kinder entsprechende zusätzliche Maßnahmen zu ermöglichen.
  6. Die LAK MV fordert eine auskömmliche Regelfinanzierung für Frauenhäuser aus Landesmitteln. Außerdem ist in jedem Frauenhaus eine niedrigschwellige Kinderbetreuung vorzusehen und sicherzustellen.
  7. Die LAK MV fordert im Interesse von ungeborenen Kinder, dass sich die Landesregierung bei der BZgA intensiv einsetzt für die Entwicklung entsprechender FASD-Präventivprogramme und gleichzeitig auf Landesebene durch geeignete Maßnahmen für eine Sensibilisierung und Bereitschaft bei allen Beteiligten (Krankenhäuser, Ärzte, Hebammen, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen) hinsichtlich von FASD-Diagnosen sorgt, damit betroffene Kinder die notwendige Betreuung erhalten.
  8. Die LAK MV fordert, bei allen erforderlichen Corona-bedingten Einschränkungen die Auswirkungen auf Menschen mit Behinderung bzw. chronischer Erkrankung in jedem Alter und jeder Lebenssituation mitzudenken (bzw. sich den Sachverstand ihrer gewählten Interessenvertretungen einzuholen).
  9. Die LAK MV fordert die Landesregierung auf, die Betreiber von stationären Einrichtungen zu verpflichten, den Bewohnern in ihren Einrichtungen kostenloses WLAN anzubieten. Die Bewohner sind bei der Medienbildung zu unterstützen. Damit kann Vereinsamung entgegengewirkt werden. (z.B. zu Zeiten der Kontaktsperre ein wirksames Mittel).

Schwerin, 14.09.2020 Prof. Ulf Groth, Sprecher der LAK MV –